Samstag, 2. Juni 2012

Die meisten von uns leben unter dem Zwang der Gesellschaft, der uns vorgibt was zutun ist und was wir lieber lassen sollten. Uns wird vorgeben was gut ist und was schlecht. Viele Gefühle werden erzwungen, Mitläufer werden gemocht und Menschen die sich abheben wollen, werden gehasst. Jeder muss für sich selbst sorgen, und Glück wird andern nicht gegönnt. Doch manchmal, wenn kurz der schwere Alltag von uns abfällt, wir nicht nachdenken und wir mal wir selbst sein können, bemerken wir wie schön Leben ist.
Vielleicht sollten wir nicht so viel nachdenken, sondern handeln.

Kleid - Zara France
Hut - Marco Polo



Ist es das Wert?


Und wieder hetzte ich vom Times Square zur Fifth Avenue, um zur Arbeit zu kommen. Mein Auto war wie immer kaputt und ich wie immer zu spät. Ich arbeite bei einer bekannten Modezeitschrift, deren Zeitlicher Ablauf auch meinem bestimmt. Wie üblich in der Modebranche ist mein Leben voller Stress. Ich habe unzählige Termine am Tag und muss mir oft auch noch Arbeit mit nach Hause nehmen. Natürlich habe ich auch viele Freunde - Models, Designer, Stylisten, Schauspieler - doch genügend Zeit bleibt mir leider für die auch nicht übrig. Einen Mann habe ich zur Zeit nicht; mein letzter Freund, Giovanni, 23, Model, verliess mich, als ich ihn in der Silvesternacht mit drei Victoria’s Secret Engeln in unserem Bett erwischte. Er nannte das „selbstverständlich“ und meinte auf Grund meiner Reaktion, die Beziehung beenden zu müssen. Nun bin ich 40 Jahre alt, habe keine Kinder, mein Auto geht so gut wie nie und das Botox hilft langsam aber sicher auch nicht mehr. Doch in meinem Job bin ich eines der hohen Tiere. Kein Bericht kommt in unsere Zeitschrift, kein Model kommt auf ein Foto, bevor ich nicht eingewilligt habe. Unsere Vorstellung von Schönheit ist klar definiert, wir buchen nur Models mit 0-Größe, sie müssen groß sein und eine grazile Ausstrahlung haben. Auch in meinem Privatleben achte ich sehr auf das Aussehen der Menschen. Da es in meinem Freundeskreis sehr wichtig ist, gut auszusehen pflege ich mein Aussehen sehr und auch meine Ex-Freunde waren bis jetzt immer bekannte Models.
Diesmal hatte ich mir vorgenommen mit der U-Bahn nach Hause  zu fahren. Normalerweise mache ich so etwas nie, denn der Underground von New York ist gefährlich und voller Idioten. Naja, mir blieb nichts anderes übrig da ich einen Berg von Akten mit nach Hause nehmen musste. Voll bepackt stand ich nun von der U-Bahn und stieg in den nächsten kommenden Wagen ein. Ich schaute mich erstmal um, bevor ich mich hinsetzte, um körperlichen Kontakt mit anderen Menschen zu vermeiden. Da saß ich nun und versuchte, einige Blicke im gegenüberliegenden Fenster zu erhaschen. Meine langen blonden Haare lagen leicht auf meinen Schultern und mein roter Lippenstift glänzte immer noch wie am Morgen. Ich bemerkte, dass ich immer dünner wurde und ich mit meinen langen Beinen immer mehr aus der Menge rausstach. Doch war das nicht das, was ich immer wollte? Anders sein, als alle andern? Oder war es das, was die Branche aus mir gemacht hatte? Schnell schüttelte ich meinem Kopf, um aus meinen sinnlosen Träumereien herauszukommen und sprang auf. Meine Haltestelle war bereits gekommen, und ich saß noch hier. Mit einem zielstrebigen Gang lief ich zur Tür, doch als ich gerade den Schritt aus der U-Bahn rausmachen wollte, stieß ich mit einem jungen Mann zusammen. Und dann passierte das, was ich vermeiden wollte: Meinen ganzen Zeitschriften und Akten plus Fotos meines Ex‘ fielen auf den Boden. Verdutzt und zornig schaute ich den Mann an. Konnte er nicht aufpassen? Hätte er nicht schauen können, wohin er läuft? Hätte er nicht ein kleines bisschen überlegen können? Ich musterte ihn von oben bis unten. Ein unscheinbarer junger Mann, Student oder etwas ähnliches, kleiner drei Tage Bart, verstrubbelte braune Haare, normale Jeans und ein etwas schiefhängendes T-Shirt, nichts „Besonderes“. Erschrocken schaute er mich an und beugte sich sofort runter, um alles aufzusammeln. Langsam ging ich auch auf die Knie, um mein Privat- und Geschäftsleben vom Boden der U-Bahn aufzuheben. Beim Aufsammeln konnte ich meine Augen nicht von ihm lassen.., wieso half er mir? Er schien meine Blicke bemerkt zu haben und fragte mich fürsorglich, ob bei mir soweit alles okay wäre. Verunsichert nickte ich. Wieso nickte ich verunsichert? Wieso sagte ich ihm nicht einfach meine Meinung? Bei dem Foto von Giovanni trafen sich unsere Hände, mich durch zischte ein Gribbeln, schnell zog ich meine Hand wieder weg. Er schaute zu mir hoch und lachte freundlich; ich fragte mich, was es zu lachen gäbe. „Ihr Freund?“ fragte er lächelnd. „Nein!“ schrie ich voller Entsetzen und zerknitterte das Bild. ,,Nein..." wiederholte ich leise und schaute mich ängstlich um. Schnell nahm ich alles zusammen und rannte aus der U-Bahn raus. Der Weg zu meinem Appartment verlief anders als normal, meine Gedanken waren immer noch bei dem jungen Mann und bei dem, was mit mir in diesem Moment passiert war. Zuhause legte ich mich schnell in mein Bett, um diese schwachsinnige Gedanken zu vermeiden. Doch es ließ mich nicht los. Was machte dieser Mann mit mir? Wo war die toughe Geschäftsfrau, die großen Wert auf das Aussehen anderer Leute wert legte? Für die Männer nur Spielzeuge waren? Was hatte dieser unscheinbare Mann, so besonderes, dass ich noch immer an ihn denken musste? Ich meine, sein Aussehen war nicht das, was ich mir unter einer Schönheit vorstellte. Seine Stimme war nicht diese männliche Stimme, die ich bei Männern bevorzugte. Was machte ihn so interessant für mich? Wieso musste ich die ganze Zeit an ihn denken? Könnte das Innere des Menschen doch die wahre Schönheit sein?